Nach Radbruch infolge Überhitzung: Sicherheit im Güterverkehr muss erhöht werden
Pro Alps
Beitrag teilen

Entgleister Güterzug im Gotthardbasistunnel
Wie vermutet, hat ein Radscheibenbruch zur Entgleisung im Gotthard-Basistunnel im August 2023 geführt. Untersuchungen legen nahe, dass dieser einer Überhitzung des Rades verschuldet war. In ihrem Schlussbericht leitet die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST) daraus Sicherheitsempfehlungen ab. Pro Alps begrüsst die Bestrebungen für einen sicheren Schienengüterverkehr. Zur ganzheitlichen Verbesserung der Verkehrssicherheit bedarf es ebenfalls eine Ausweitung der Kontrollen auf der Strasse.
Am 10. August 2023 brach zehn Kilometer nach der Einfahrt in den Gotthard-Basistunnel (GBT) am elften Wagen eines nordwärts fahrenden Güterzuges eine Radscheibe. Infolgedessen entgleiste der Wagen mit der betroffenen Achse. In der Spurwechselstelle Faido beschädigte er eine Weiche. Diese änderte ihre Position, während die Lokomotiven und vorderen Wagen geradeaus fuhren, geriet der hintere Zugteil auf das Verbindungsgleis zur zweiten Röhre und entgleiste. Bis zur Unglücksstelle fuhr der Zug sieben Kilometer mit der entgleisten Achse und zerstörte die Bahnanlagen im Tunnel.
Überhitztes Rad als Unfallursache
Anfang Juni 2025 veröffentlichte die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST) ihren Schlussbericht. Er bestätigte den Verdacht: Eine thermische Überbeanspruchung des Rades führte zur Rissbildung und ultimativ zu Brüchen in der Radscheibe. Als wahrscheinlichste Ursache für die Überhitzung werden anliegende – nicht vollständig gelöste – Bremsen gehandelt. Die Risse bildeten sich langsam über längere Zeit. Im verunglückten Wagen waren sogenannte LL-Bremssohlen verbaut. Diese gerieten bei der Suche nach der Ursache für die Überhitzung in den Fokus. Denn auch die verbleibenden Räder des Wagens wiesen ähnliche Risse auf.
Bremsen im Visier – in ganz Europa
Bei LL-Bremssohlen (Low noise, Low friction – geringer Lärm, geringe Reibung) handelt es sich um Bremssohlen aus Verbundwerkstoffen. Im Güterverkehr wird normalerweise direkt auf dem Rad gebremst. Im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts lösten Verbundstoffbremsen Bremssohlen die lauten Graugussbremsen ab, deren Betrieb in der Schweiz untersagt ist. Verbundstoffbremsen führen zu einer Lärmreduktion beim Fahren und Bremsen um acht bis zehn Dezibel, für das menschliche Ohr als eine Halbierung des Lärms wahrnehmbar. Güterwagen mit Graugusssohlen können zudem ohne grosse Umbauten auf die leiseren Bremsen umgerüstet werden. Die Umrüstung auf leisere Bremsen wurde von der Schweiz finanziell unterstützt.
Zugleich sind LL-Bremssohlen bereits negativ in Erscheinung getreten. Eine von der SUST zitierte Studie aus Schweden von 2021 legte zu Tage, dass Verbundstoffbremssohlen zur «erhöhten thermischen Belastung des Rades» führen. Dabei verteilt sich die Wärme ungleichmässig auf der Lauffläche des Rades und es bilden sich punktuell «Wärme-Hot-Spots». Die Studie hielt fest, dass Verbundstoffbremsklötze zu höherer Wärmebelastung des Rades als Graugussbremsen neigen, da sie selbst weniger Reibungswärme aufnehmen. In Italien hat eine Serie von Zwischenfällen, die auf erhitzte LL-Verbundstoffbremssohlen zurückzuführen waren, die Verkehrsbehörden zum Erlass strengerer Vorschriften für deren Wartung und Betrieb bewegt.
Vier Empfehlungen der SUST
In ihrem Schlussbericht sprach die SUST vier Sicherheitsempfehlungen und einen Sicherheitshinweis aus. Drei Sicherheitsempfehlungen richten sich an die Eisenbahnagentur der Europäischen Union (European Railway Association, ERA): Der minimale Raddurchmesser für alle Radsatztypen mit Verbundstoffbremsen soll erhöht und die Instandhaltungsvorgaben für mit LL-Bremssohlen gebremste Radsätze bezüglich der Intervalle und Methodik sollen angepasst werden. Zusätzlich soll eine neue Studie zum Einfluss von Verbundstoffbremsen auf die Wärmebelastung der Räder in Auftrag gegeben werden.
Der Entscheid, ob die Massnahmen europaweit umgesetzt werden, obliegt nun der ERA. Mit dem SUST-Bericht dürfte der Druck zum Handeln zunehmen.
Eine vierte Sicherheitsempfehlung richtete die SUST an das Bundesamt für Verkehr und betraf die im GBT verbaute Weiche. Als Reaktion wurde die Geschwindigkeit, mit welcher Weichen im GBT befahren werden dürfen, gesenkt. Zuletzt sprach die SUST einen Sicherheitshinweis an SBB Cargo zur Nachweisführung der technischen Kontrolle der Züge aus.
Der SUST-Bericht entlastet zuletzt den Wagenhalter Transwaggon. Dieser ist beim Unfallwagen seinen vorgeschriebenen Wartungspflichten nachgekommen. Wie der Konklusion der Untersuchung der geborgenen Radfragmente zu entnehmen ist, handelte es sich hierbei um ein systematisches Phänomen und keinen einzelnen Materialfehler.
Verkehr sicher verlagern
Nach der Publikation des SUST-Berichts kündigte SBB Cargo sofort an, aus der Beförderung von Wagen mit LL-Bremssohlen auszusteigen und verstärkt auf K (Komposit)- Bremssohlen, eine weitere Art geräuscharmer Verbundstoffbremsen, zu setzen. Diese gelten als weniger anfällig für Überhitzung, sind jedoch teurer und die Umrüstung aufwändiger. Doch selbst wenn sich SBB Cargo von Wagen mit LL-Bremssohlen verabschiedet, könnten andere Eisenbahnverkehrsunternehmen diese durch die Schweiz transportieren.
Pro Alps trägt die Empfehlungen der SUST mit und begrüsst die angestrebte Stärkung der Sicherheit im Schienengüterverkehr. Als Reaktion auf den Bericht wurden Forderungen laut, jeden aus dem Ausland ankommenden Zug an der Schweizer Grenze zu kontrollieren. Pro Alps mahnt, dass solche Kontrollen starke Auswirkungen auf den Güterverkehr haben würden. Durch verlängerte und weniger planbare Transportzeiten könnten Kunden zu einer Rückverlagerung auf die Strasse gebracht werden. Das systematische Problem mit LL-Bremssohlen, welches es an der Wurzel zu packen gilt, würde mit Grenzkontrollen nicht beseitigt werden.
Eine Rückkehr zu Graugussbremsen würde Errungenschaften aus vielen Jahren Kampf gegen die Lärmbelastung zu Nichte machen und kommt für Pro Alps daher nicht in Frage.
Der Unfall im Gotthardtunnel hat auch die veralteten Haftungsregeln im Schienengüterverkehr ins politische Rampenlicht gerückt. Gemäss geltendem System trägt de facto ausschliesslich das transportierende Unternehmen die Kosten eines Unfalls, selbst dann, wenn wie in diesem Fall ein Wagen einer privaten Halterin die Ursache ist.
Im konkreten Fall handelt es sich beim Transporteur um SBB Cargo. Damit tragen letztlich die Schweizer Steuerzahlenden die Folgekosten. Die Halterin des Wagens, Transwaggon, muss lediglich nachweisen, dass die vorgeschriebenen Instandhaltungsfristen eingehalten wurden. Die Instandhaltung wird wiederum von externen Dienstleistern durchgeführt.
Der Untersuchungsbericht hält zudem fest: «… eine wirksame Kontrolle zur Erkennung von entstehenden Radscheibenrissen ist nur während der Instandhaltung auf einer Grube möglich.» Eine solche Kontrolle hätte einzig Transwaggon oder eine von ihr beauftragte Firma durchführen können und der Riss hätte so rechtzeitig entdeckt und behoben werden können.
Solange Wagenhalter wie Transwaggon im Falle eines Unfalls nicht selbst haften, fehlt der Anreiz, in Kontrollen, eine hochwertige Instandhaltung oder bessere Komponenten, etwa in K-Sohlen oder Scheibenbremsen, zu investieren. Der Systemfehler im Haftungsrecht muss darum dringend korrigiert werden.
Für mehr Sicherheit bei allen Verkehrsträgern
Zugunfälle wie derjenige im Gotthard-Basistunnel haben gravierende Folgen. Doch insgesamt geschehen diese markant seltener als schwere Unfälle im Strassengüterverkehr. Ebenso unterliegt der Schienengüterverkehr bereits heute wesentlich stärkeren Kontrollen als die Strasse. Auf der Strasse hingegen machen sich Spediteure die lascheren Sicherheitsvorgaben- und Kontrollen immer wieder als Wettbewerbsvorteil zu Nutze. Dass trotz der schrittweisen Ausweitung der Kontrollen weiterhin gravierende Sicherheitsdefizite bestehen, legen die neusten Schwerverkehrskontrollzahlen zu Tage. Für Steigerung der Sicherheit im gesamten Güterverkehr fordert Pro Alps daher, dass auch auf den Strassen die Schraube weiter angezogen wird.
Pro Alps
Beitrag teilen